DER SPIEGEL Nr. 3 / 11.1.2025

Thomas Seedorf, 64, ist Professor für Musikwissenschaft in Karlsruhe,

​

Die Stimme ist das Instrument des Jahres 2025 !

​

MELODIEN

»Was sagt die Stimme, Herr Seedorf?« 

SPIEGEL: Wann haben Sie zuletzt gedacht: schöne Stimme?

Seedorf: Mich bewegt sehr die Stimme von Enrico Caruso. 

SPIEGEL: Was daran?

Seedorf: Sie ist eine Verbindung aus absolut sauberer Technik und einer abgründigen Schönheit und Emotionalität. 

SPIEGEL: Die Stimme ist das Instrument des Jahres 2025.

Seedorf: Die Selbstverständlichkeit, mit der sie dazu ausgerufen wurde, hat mich überrascht.

SPIEGEL: Warum?

Seedorf: Man kann darüber streiten, ob die Stimme ein Instrument ist oder nicht. Eine Tuba ist eine Tuba. Trotz unterschiedlicher Bauweisen gibt es von jedem Typus Hunderte baugleiche Instrumente. Die Stimme ist höchst individuell. Außerdem ist sie aufgrund ihrer Körperlichkeit instabiler als eine Klarinette. Das spricht gegen ein Instrument.

SPIEGEL: Und was dafür?

Seedorf: Man kann sich mit ihr musikalisch ausdrücken, sie als ein Werkzeug verstehen. Profis können ein hohes Maß an Stabilität herstellen.

SPIEGEL: Was sagt die Stimme über den Einzelnen?

Seedorf: Sie ist ein hörbares Zeichen von uns als Mensch. Schüchterne sprechen leise, Angeber schmettern ihre Weisheiten in die Welt. Im Gesang können Dinge in Erscheinung treten, die man sonst nicht hört: Eine stille Person wird vielleicht zur Rockröhre. Gesang weckt Kräfte, die im Alltag nicht zur Verfügung stehen.

SPIEGEL: Wenn die Stimme kein Instrument ist, welchem kommt sie denn am nächsten?

Seedorf: Ein Horn kann wie ein Tenor klingen, eine Flöte wie ein Sopran, eine Klarinette wie eine Altstimme. Aber das ist auch eine Besonderheit der Stimme: Sie kann singen, aber eben auch sprechen und emotionale Laute bilden. Sie ist ein wesentlicher Teil des Menschen. ​JUP